EIN GEMEINSAMER TRAUM. EINE EINDRUCKSVOLLE ROUTE.
Matteo Bernasconi, von allen nur "Berna" genannt, und ich hatten unterschiedliche Lebensweisen, verfolgten verschiedene Interessen und gingen manchmal auf sehr gegensätzliche Weise an Dinge heran. Aber wenn wir zusammen kletterten, waren wir wie Brüder: Er vertraute mir blind und wäre mir bis an das Ende der Welt gefolgt. Und ich fühlte mich mit niemand anderem so sicher wie mit ihm und wusste, dass ich ihm jederzeit mein Leben anvertrauen konnte. Nach der gemeinsamen Durchsteigung der Westflanke des Torre Egger und der anschließenden Besteigung des Cerro Murallon hatten wir eine neue Route entdeckt. Diese Route zu meistern, wäre der Höhepunkt unserer Reise als Freunde, als Bergsteiger und als Kletterpartner.
Wir träumten von einer Route, die wir im Alpinstil durchsteigen wollten, eine präzise Linie entlang des 1300 Meter hohen und berühmtesten Fels-Monolithen in Patagonien beziehungsweise auf der ganzen Welt - dem Cerro Torre. Er ist in meinen Augen der schönste, eleganteste und schwierigste Berg und ragt den Sternen entgegen wie ein versteinerter Schrei.
Aber zu zweit würden wir diesen Traum nicht realisieren können. Bald schon stellten wir fest, dass wir bei einem Ziel dieser Größenordnung unser Vorhaben nur in die Realität umsetzen könnten, wenn wir unsere Mannschaft vergrößern würden. Wir mussten einen jungen Bergsteiger in unser Team aufnehmen, der ein großes Verlangen danach hatte, Neues zu lernen, sich selbst etwas zu beweisen und der eine Sichtweise hatte, die sich von unserer unterschied. Matteo Pasquetto erfüllte alle diese Erwartungen. Er war der ideale Begleiter, mit dem wir dieses Projekt zusammen angehen wollten.
Somit brachen wir im Januar 2019 zu unserem Ziel auf der südlichen Erdhalbkugel auf.
VON DEN ERSTEN VERSUCHEN LERNEN
Wie es das Schicksal so wollte, verletzte sich Berna wenige Tage vor unserer geplanten Abreise schwer am Knie und war somit gezwungen, zuhause zu bleiben. In diesem Moment mussten wir eine entsprechende Entscheidung treffen. Es war uns bewusst, dass für ein dermaßen herausforderndes Projekt, nämllich eine neue Route im Alpinstil in der Westflanke des Cerro Torre einzurichten, unzählig viele Versuche nötig sind, die sich über Jahre hinziehen können. Aber Matteo Pasquetto und ich trafen die Entscheidung, es dennoch zu zweit zu versuchen. Als wir am Fuße der Westflanke des Gebirgsmassivs ankamen, fühlte ich mich von deren Großartigkeit so beeindruckt, wie ich es davor noch nie erlebt hatte: Einerseits kam ich mir winzig vor im Vergleich zu diesem enormen Berg aus Fels und Eis, andererseits spürte ich bei dem Gedanken, diesem Traum so nahe zu sein, eine immense Begeisterung in mir.
Matteo und mir gelang ein erfolgreicher Versuch, bei dem wir etwa 800 Meter der Wand durchstiegen, und zwar bis über die Hälfte der auffälligen Kante an der rechten Seite der Westflanke, auch bekannt als British Diedre (britisches Vieleck). Am Ende waren wir allerdings nicht in der Lage, die Route zu Ende zu klettern. Doch obwohl wir aufgeben mussten, hatten wir eine Menge gelernt und waren voller Hoffnung für unsere zukünftige Versuche. Darüber hinaus spornte es mich in gewisser Weise an, wenn ich Matteo beim Klettern zusah: Er war zehn Jahre jünger als ich und hatte den Enthusiasmus, die Ungestümtheit und die Hartnäckigkeit eines 20-Jährigen, aber in puncto Klettertechnik und mentaler Stärke bewegte er sich auf dem Niveau eines 30-Jährigen. Ich hatte keinerlei Zweifel: Mit ihm hatten wir einen wahren Trumpf in der Hand und deutlich bessere Chancen für die erfolgreiche Umsetzung unseres Projektes.
UNVORHERSEHBARE EREIGNISSE UND ZIELE
In der Saison 2019/2020 hat sich das Kletterteam der drei Matteos (Bernasconi, Della Bordella, Pasquetto) erneut zusammengetan, um einen weiteren Versuch zu unternehmen. Um große Ziele zu erreichen, müssen allerdings, wie wir alle wissen, sämtliche Faktoren zusammenpassen: Dazu gehören die körperliche Fitness, das Einvernehmen in der Seilschaft, keine unvorhersehbaren Ereignisse in letzter Minute, eine stabile Wetterlage, die Bedingungen am Berg. Und genau hier fehlte uns das letztes Quäntchen Glück. In dieser Saison verweigerte sich uns der Cerro Torre. Er war auf den gesamten letzten 400 Metern von einer dicken Eisschicht überzogen. Ein Versuch bei diesen Bedingungen wäre extrem gefährlich gewesen, und wie schon der große Denis Urubko sagte, "I'm crazy, but not stupid!" - "Ich bin vielleicht verrückt, aber nicht dumm!".
Somit waren wir gezwungen, unsere Pläne zu ändern und eröffneten stattdessen, ebenfalls im Alpinstil, eine elegante Route an der Nordseite der Aguja Standhardt - eine 800 Meter lange, neue Route, die über Platten, Überhänge und ein rechtwinkliges Dieder mit perfekter Geometrie verlief, das wir "Il dado è tratto" (DIe Würfel sind gefallen) tauften. Es war eine wunderschöne Tour, denn es war uns gelungen, im Fels umzusetzen, was wir in unseren Köpfen geschaffen hatten. Es war eine Kletterroute, die einige Monate später sogar noch von größerer Bedeutung war, denn sie sollte unser letztes, großes, gemeinsames Abenteuer sein.
DIE BEDEUTUNG VON FREUNDSCHAFT
2020 war für jeden ein sehr schwieriges Jahr. Zusätzlich zu all den Einschränkungen, von denen wir alle betroffen waren, verstarben Matteo Bernasconi und Matteo Pasquetto innerhalb von nur wenigen Monate und unter unterschiedlichen und unerklärlichen Umständen.
Seit diesem Moment gibt es unser Team nicht mehr. Sich von einem solchen Schicksalsschlag zu erholen, ist eine äußerst schwierige Aufgabe. Ich allerdings denke lieber an all die großen Momente, die das Leben mir beschert hat, als an das, was mir für immer genommen wurde. Die Erlebnisse, die geteilten Emotionen, die Träume, die ich zusammen mit diesen beiden Freunden verfolgt habe, sind die wunderbarsten Geschenke, die das Leben mir zuteil werden ließ.
Und deshalb stehe ich nun hier, bereit dazu, ein weiteres Mal zur südlichen Erdhalbkugel aufzubrechen, mit einem Traum in mir, stärkerem Bewusstsein und dem inständigen Wunsch, nochmals einen Versuch am Cerro Torre zu wagen. Klettern und Bergsteigen ist das, was ich in meinem Leben machen will. Und Träume sind am schönsten, wenn sie wahr werden.
BROTHERS IN ARMS
Folglich war die diesjährige Expedition geprägt von einer zusätzlichen Motivation. Der Wunsch, meine Freunde in Gedanken mit zu den Bergen zu nehmen, die sie so liebten, war unsagbar groß.
Begleitet haben mich dieses Mal zwei Freunde aus meiner Bergsteiger-Gruppe Ragni di Lecco: David Bacci - mit ihm war ich bereits auf zahlreichen schönen Klettertouren in Patagonien unterwegs - und Matteo "Giga" De Zaiacomo - der mir schon auf vielen Expeditionen ein wertvoller Partner war, aber noch keinerlei Erfahrung mit diesen legendären Granitnadeln hatte.
Diese Jahr erwies sich offensichtlich als richtiger Zeitpunkt, um unsere Route am Cerro Torre zu klettern und wir waren dafür optimal vorbereitet. In drei intensiven Klettertagen gelang es uns, die Route unserer Träume zu bewältigen.
Am 25. Januar stiegen wir in die Wand ein, kletterten die ersten 500 Meter bis zur sogenannten englischen Box. Nach der Nacht in unserem Portaledge kletterten wir am nächsten Tag das berühmte, überhängende "British Diedre", wo 1981 auch der Versuch der beiden britischen Bergsteiger Burke und Proctor verlief. Diese körperlich extrem anstrengenden und schwierigen Seillängen stellten uns und unser Können auf die Probe und brachten uns an unsere Grenzen - und vielleicht auch ein bisschen darüber hinaus! Am dritten Tag in dieser Wand überwanden wir das Dieder und hatten das Glück, auf Tomy Aguilo und Korra Pesce zu stoßen, die wiederum an ihrer neuen Route arbeiteten. Wir folgten ihnen zum Gipfel des Cerro Torre, den wir am 27. Januar abends um 18 Uhr erreichten. Am Gipfel angekommen wollte ich nur noch weinen, in Gedanken an meine beiden Matteos. In gewisser Weise fühlte es sich so an, als wären bei uns.
Ein großer Dank gilt meinen beiden Kameraden David und Giga, die herausragend waren auf dieser langen Reise. Unglücklicherweise nahm unser Abenteuer ein sehr bitteres Ende, denn unsere Freunde Tomy und Korra, die eine andere Abstiegsroute gewählt hatten als wir, wurden von einer herabstürzenden Eislawine getroffen. Wir versuchten am darauffolgenden Tag alles zu tun, was in unserer Macht stand, um ihnen zu helfen. Es gelang uns sogar, zu ihnen vorzudringen und wir konnten Tomy bergen. Korra Pesce konnten wir bedauerlicherweise allerdings nicht retten.
Wir beschlossen daher, unsere neue Route "Brothers in arms" zu nennen und widmeten sie Matteo Bernasconi, Matteo Pasquetto und Korra Pesce, und selbstverständlich auch allen anderen Bergkameraden, die ihr Leben in den Bergen, die wir so sehr lieben, verloren haben.
experience by
MATTEO DELLA BORDELLA