DAS RIFUGIO TORRANI. IM HERZEN DER CIVETTAGRUPPE
Manrico Dell'Agnola hat uns zum ersten Mal von Venturino De Bona erzählt. Er ist derjenige, der die Verschneidung "Philipp-Flamm" in der Civetta Nordwand in 2 Stunden und 40 Minuten geschafft hat, und er kennt die Geschichte von De Bona und auch das Rifugio, das dieser am Fuße der Civettagruppe betreibt, sehr gut. "Venturino ist hier Teil der Geschichte". Wenig ist über seine (anspruchsvollen) Klettertouren bekannt und oft hört man abends im Rifugio neue Geschichten.
Das liegt vielleicht an seiner Bescheidenheit und an der gewissen Schüchternheit, die sich hinter Venturinos Ausführungen verbergen. Dies hindert auch uns daran, seine beispielhafte Geschichte zu erzählen, die vom Bergsteigen aus Leidenschaft in den umliegenden Bergen handelt - den Bergen, mit denen sein ganzes Leben, sowohl persönlich als auch beruflich, verbunden ist.
Venturino De Bona ist der sympathische Hüttenwirt des Rifugio Maria Vittoria Torrani. Eine Schutzhütte im wahrsten Sinne des Wortes und die wohl am extremsten gelegene Unterkunft in den Dolomiten, die zum UNESCO-Welterbe zählen. Ein Adlernest an einem strategischen Ort, am Fuße des Monte Civetta. Ein entscheidender Stützpunkt für alle, die den 3.000 Meter hohen Dolomitengipfel besteigen wollen, sei es über die Normalroute oder über eine der schwierigeren und legendären Routen.
Manrico, ein Fotograf und Bergsteiger, ist dort schon immer unterwegs. Er kennt jeden Zentimeter des Bergmassivs und hat es bei allen Witterungsbedingungen erlebt. "Ich glaube nicht, dass ich diesem Rifugio so verbunden wäre, wenn ich hier nicht Venturino begegnet wäre", sagt er. Venturino ist ein Mann, der sich sachlich und nüchtern ausdrückt und einen durchdringenden Blick hat. Der gastfreundliche Hüttenwirt bewahrt sich eine natürliche Zurückhaltung, die er aber im Gespräch langsam ablegt. Anfangs ist er meist wortkarg und wirkt unnahbar, wenn es darum geht, über seine bergsteigerischen Leistungen zu sprechen, aber im Laufe der Zeit wird er zugänglicher und breitet vor uns eine Welt aus Erinnerungen aus, die sich in seinem Kopf und innerhalb der Mauern dieses kleinen Rifugio festgesetzt haben. Im Jahr 2023 feierte das Rifugio Torrani sein 85-jähriges Jubiläum, während Venturino De Bona, der im Sommer 2005 dessen Leitung übernommen hat, quasi den wichtigen Meilenstein der "Volljährigkeit" erreichte. "Dynamischer Vierzigjähriger aus Longarone, hervorragender Bergsteiger, Mitglied der Bergrettung, ehemaliges Mitglied des regionalen Forstdienstes, mit Erfahrung als Mitarbeiter in der Leitung von Berghütten", so hieß es in einer Mitteilung der Sektion Conegliano des Italienischen Alpenvereins über die Ankunft des neuen Hüttenwirts.
Venturino sollte eine entscheidende Aufgabe erfüllen: den Bergsteigern am Fuße eines der berühmtesten Dolomitengipfel, in der höchstgelegenen Hütte der Dolomiten, Schutz bieten. Das Rifugio Torrani liegt auf 2.984 Metern und ist in dieser zerklüfteten Umgebung aus brüchigem, vertikalem Kalkstein unvergleichlich. Die Torrani Hütte ist eine bescheidene, aber gemütliche Unterkunft. Im Laufe der Jahre hat Venturino sie zu einem echten Anlaufpunkt für alle Bergsteiger auf dem Weg zum Monte Civetta gemacht. Zweiundzwanzig Betten in einem Schlafraum und ein paar Räume zum Kochen und Essen. Hier gibt es immer eine warme Mahlzeit.
Das Rifugio Torrani wurde 1936 auf Initiative des Bergsteigers Domenico Rudatis von der Sektion Conegliano des italienischen Alpenvereins (CAI) geplant und entworfen. 1937 begannen die Bauarbeiten mit Hilfe der von den Familien Vazzoler und Torrani zur Verfügung gestellten Mittel. Das Gebäude wurde Maria Vittoria Torrani gewidmet, einer großen Bergliebhaberin, Bergsteigerin und Skifahrerin, die am 6. Januar 1935 bei einem Lawinenabgang ums Leben kam. An diesem Tag war sie zusammen mit einigen Freunden der Sektion Mailand, Roberto Cazzaniga und den Geschwistern Lisetta und Augusto Porro, auf dem Piz Corvatsch in der Berninagruppe unterwegs.
Ein Jahr nach Beginn der Arbeiten wurde das Gebäude endlich fertiggestellt und konnte eingeweiht werden. Auch der Journalist Dino Buzzati, ein großer Liebhaber der Dolomiten, stieg zu diesem Anlass zum Rifugio hinauf. Damals war der Aufstieg nicht ganz einfach und erforderte gute bergsteigerische Fähigkeiten. Aus diesem Grund wurde unter den Mitgliedern der Sektion des italienischen Alpenvereins eine Spendenaktion organisiert, um den Ausbau des Klettersteigs Attilio Tissi zu finanzieren, der noch heute zur Hütte führt.
Der Korrektheit halber muss erwähnt werden, dass es keinen Weg zur Hütte gibt, der einfach oder kurz ist. Es handelt sich immer noch um eine Schutzhütte, die für ambitionierte Bergsteiger errichtet wurde. Unabhängig davon, welche Route man wählt, muss man mit einer vier- bis sechsstündigen Gehzeit in technischem Gelände rechnen, für die man das Gebirge und seine Schwierigkeiten kennen muss. Wie schon erwähnt, handelt es sich um ein echtes Adlernest.
Abends, wenn Venturino endlich Zeit hat innezuhalten und nach oben zu blicken, um den Gedanken an den vergangenen Tag nachzuhängen, spiegelt sich der Fels der Civetta in seinen Augen wider. Die Gäste nehmen ihre letzten Getränke zu sich, bevor sie zu Bett gehen, und der Sonnenuntergang färbt den Himmel in herrlichem Abendrot. Ein weiterer Tag neigt sich dem Ende zu und Stille legt sich über das alte Gemäuer des Rifugio. In diesen Momenten erzählt der Hüttenwirt bereitwillig von seinen Bergsteigererlebnissen und gibt bisher unbekannte Eindrücke preis.
Wie beispielsweise die Erstbegehung der "Nuvole Barocche", die er zusammen mit Piero Bez im Jahr 1999 durchstiegen hat. Eine Route, die mehr oder weniger senkrecht zur Mitte der Wand ansteigt und durch die Nordwestwand der Civetta führt. Eine Wand, die nicht nur gewaltig, sondern auch so extrem ist, dass sie mit ihren fast 1.200 Höhenmetern unbezwingbar erscheint. Venturino redet wenig, aber er gibt uns zu verstehen, wie sehr er mit diesen kaum sichtbaren Spuren im Fels verbunden ist. Seine Augen erfassen jede Kante, verfolgen die Abfolge der Bewegungen. Er erinnert sich an sie alle, als wäre es erst gestern gewesen. Dabei ist bereits ein Vierteljahrhundert vergangen. Drei Jahre hat er gebraucht, um die Route einzurichten. Eine der schwierigsten in den Dolomiten, sagt man. "Wir haben am 17. August 1996 begonnen und sind am 13. September 1999 fertig geworden. Insgesamt verbrachten wir zehn Tage in der Wand und biwakierten acht Mal, davon fünf Mal auf einem Absatz der Philipp-Flamm-Verschneidung, den man durch Abseilen von der neunten Seillänge aus erreicht." So beschreibt De Bona die Tage der Erstbegehung. ""Zwei der anderen Biwaks befanden sich in einer Hängematte am Ende der 18. Seillänge (unter dem großen Dach) und ein weiteres im Couloir am Ende der 23. Die ersten drei Seillängen verlaufen durch die Philipp-Verschneidung, die 26. und 27. durch die Comici-Route. Die letzten drei Seillängen folgen einer Variante der Philipp-Route von 1989, die von spanischen Bergsteigern ausgearbeitet wurde. Wer die Route frei klettern will, muss mindestens drei Tage in der Wand verbringen, fügt er hinzu. Venturino kennt diese Wand wie seine Westentasche, wie könnte es auch anders sein.
Wer eine Schutzhütte wie das Rifugio Torrani leitet, muss mehr als nur Gastfreundschaft bieten. Seine Aufgaben sind umfassender. Er ist die Erste Anlaufstelle, wenn Hilfe benötigt wird. Darüber hinaus ist Venturino der erste, an den man sich wendet, wenn es Probleme zu lösen gibt, und der Letzte, der sich schlafen legt, wenn wieder alle seine Gäste vom Aufstieg zurückgekehrt sind. Die Torrani ist ein obligatorischer Zwischenstopp für alle, die den Gipfel des Monte Civetta erreichen wollen. Der Normalweg führt an der Hütte vorbei, ebenso wie der Klettersteig, der den Passo del Tenente mit dem Gipfel verbindet. Diejenigen, die die Klettersteige Tissi und Alleghesi begehen, können in der Hütte eine wohltuende Pause einlegen, ebenso wie diejenigen, die die schwierige Nordwest-Route in Angriff nehmen. Jeder wird mit einem warmen Gericht, einem guten Glas Wein und dem freundlichen Lächeln von Venturino, dem stillen Hüter der Civetta, empfangen.
THE UNEXPECTED ADVENTURE
Bis vor einigen Jahren galt die Verschneidung Philipp-Flamm als eine schwierige und anspruchsvolle Route. Was die Herausforderung angeht, gibt es nicht viel zu erklären, denn das ist eine Eigenschaft, die alle großen Wände teilen. Was jedoch die technischen Schwierigkeiten anbelangt, wurde sie von anderen Kletterrouten auf derselben Seite der Civetta deutlich übertroffen. Meiner Meinung nach wurde 1991 mit "Kein Rest von Sehnsucht" ein wirklicher Fortschritt erzielt. Diese Route wurde von Christoph Hainz und Valentin Pardeller "ohne Netz und doppelten Boden" eröffnet, in demselben Stil also, den Walter Philipp 1957 angewandt hatte, nur mit normalen Bohrhaken ... und davon nur ganz wenigen. (Damals fand Christoph im ersten Teil einige Bohrhaken, die von anderen Kletterern bei deren Versuchen gesetzt worden waren, und es entbrannte eine heftige Kontroverse über die Verwendung dieser Bohrhaken im Gebirge ... wie sich die Dinge ändern.) Heute sind an der großen Nordwestwand der Civetta verschiedene wirklich schwierige, mehr oder weniger moderne Routen entwickelt worden, die im Sommer und im Winter von den derzeit stärksten Seilschaften wiederholt werden.
Aber kommen wir auf uns zurück. Es war der Sommer 2006 und im darauffolgenden Jahr würde sich die Erstbegehung der legendären Philipp-Flamm-Route zum 50. Mal jähren. Damals gab es noch die renommierte Zeitschrift Alp, die zu diesem Zeitpunkt von Linda Cottino herausgegeben wurde, die sich mit mir in Verbindung setzte, um einen Beitrag zum Jubiläum dieser großartigen Durchsteigung zu schreiben. Bei dieser Anfrage ging es um ein Interview mit einer Fotostrecke, in der ich als Kletterer der letzten Begehung dieser Route vergestellt werden sollte: 1990 kletterte ich die Route ungesichert in einer Zeit von nur 2 Stunden und 40 Minuten - wie der aufmerksame Nani Da Canal, der damalige Hüttenwirt des Rifugio Tissi, berichtete, der mich an diesem Tag mit seinem Fernrohr nicht einen Moment aus den Augen ließ.
Es war nicht leicht, zwischen Missverständnissen und Falschinformationen alles zu organisieren, aber schließlich war die Zeit zum Handeln gekommen. Wir trafen uns an einem Abend alle im Rifugio Tissi. Die "Gang" bestand aus mir und fünf Bergführern: eine vordere Seilschaft, deren zweiter Kletterer als Fotograf fungierte. Dann mein Begleiter und ich. Und zuletzt die dritte Seilschaft, die uns aus reiner Freundschaft begleitete... so könnte man es zumindest ausdrücken.
Um die Wahrheit zu sagen, war ich der erste, der ein wenig zögerte, weil ich nicht zu früh aufbrechen wollte - eine Frage des richtigen Lichts, sagte ich, noch nicht ahnend, dass das Nachspiel auf jeden Fall eher komisch als tragisch sein würde. Wir waren nicht sehr schnell unterwegs, aber wir dachten alle, wir wüssten, was wir taten. Die ersten Seillängen waren unspektakulär, also setzten wir bis zur Verscheidung keine Scheinwerfer ein, aber ein Problem zeichnete sich bereits ab: Durch das Vorsteigen der ersten beiden Seilschaften in der Wand musste die dritte Seilschaft einigen kleinen Steinen ausweichen. Es ist unmöglich zu klettern, ohne an der Felsoberfläche etwas auszulösen, selbst wenn man noch so sehr aufpasst. Wir wollten das Problem lösen, indem wir sie mit unserem Team anseilten, aber dadurch verloren wir wertvolle Zeit. Außerdem wurde mir klar, dass auch dies nicht der richtige Weg war. Wir wurden langsam nervös. An der Verschneidung hat der Fotograf seinen Job gemacht und ich meinen, aber ohne die Möglichkeit einer weiteren Aufnahme, wobei die erste schon gut war. Von daher ging es weiter nach oben.
Schließlich erreichten wir den großen, "wundersamen" Felsvorsprung. Die Route führte nun direkt hinauf zu einer Reihe dunkler, schwarzer und feuchter Kamine, die alles andere als einladend waren, aber die Route ging nunmal genau dort hindurch, obwohl mein Bauchgefühl in eine andere Richtung deutete. Es gab einen schönen Stand auf einer kleinen Terrasse mit drei guten Bohrhaken und Seilen - ich habe ihn immer noch vor Augen. Ich war die Route schon viermal geklettert, und einer der anderen hatte kurz zuvor einen Kunden ebenfalls dorthin geführt, aber trotzdem haben wir uns aus unerklärlichen Gründen irgendwie nach rechts orientiert und somit einen großen Fehler gemacht.
So etwas kommt schon mal vor, aber das Problem war unser Zeitfenster, denn es war schon ziemlich spät. Ich rief meine Frau an, die daraufhin nur lachte. Sie erzählte mir, dass sie bereits von Walter gehört hatte und dass sie sich unten im Tal schon seit einiger Zeit Gedanken darüber machen würden, was wir eigentlich vorhaben. Nach zwei oder drei Seillängen befanden wir uns in einer großen Rinne, völlig abseits des geplanten Routenverlaufs.
Einer aus unserer Seilschaft versuchte, eine einladende graue Flanke weiter hinaufzuklettern, was alles andere als einfach war, aber weiter oben fand er keine Lösung für unsere Situation - auch weil es mittlerweile schon dämmerte - und so stieg er wieder zu uns hinunter. Von oben hingen ein paar zerschlissene Seile die Wand hinunter. Im letzten Licht und bei kaltem Wind ließen sie uns wirklich erschaudern. Wir saßen in der Patsche und jetzt war es bereits dunkel. Obwohl es Hochsommer war, war es dort oben keineswegs warm. So hatte es sich keiner von uns vorgestellt, aber alles in allem haben wir diese Situation gut gemeistert. Irgendjemand hatte eine dicke Jacke dabei, andere nur einen Fleece, einer packte eine Rettungsdecke aus, die wir in mehrere kleinere Stücke teilten. Bei ein paar Süßigkeiten und einem Energieriegel, viel blödsinnigem Gequatsche und wenig zu trinken, verging die kurze, aber eiskalte Sommernacht ohne besondere Probleme. Schließlich waren wir fünf Profis (und ich) und wir ließen uns von der Situation nicht im geringsten entmutigen. Wir mussten jetzt nur noch von dort wieder wegkommen.
Es kam für uns allerdings nicht in Frage, wieder abzusteigen, um die "richtige Route" zu klettern. Die einzige Lösung war, nach rechts in Richtung Comici zu queren und über die Cassin-Variante auf den Grat zu gelangen. Ich kannte die Wand gut, aber um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wo genau ich an diesem Tag kletterte. Tatsache ist, dass wir um 11 Uhr alle sicher und wohlbehalten auf dem Grat waren, nicht weit vom Gipfel entfernt, und das trotz brüchiger Traversen und nasser Rinnen. Ich erinnere mich an die Freude über die Sonne, nach der wir uns die ganze Nacht über gesehnt hatten. Nach einem Biwak aus einer Nordwand zu kommen, ist immer ein überwältigendes Erlebnis. Dank der wärmenden Augustsonne fühlte es sich so an, als kämen wir in einer Sekunde von der Hölle in den Himmel - der Ausstieg aus finsteren Tiefen. Wir rafften die Seile zusammen und organisierten die Ausrüstung so gut es ging, und kurze Zeit später, im Rifugio Torrani, fühlten wir uns dank des herzlichen Empfangs von Venturino De Bona wie zu Hause und wir genossen das kleine Rifugio, als wäre es ein "Palast". Wir genossen das Essen, aber vor allem das Bier, und ich erinnere mich an die fröhliche Runde am Tisch und ein bisschen an dieses Gefühl, überlebt zu haben, an diese Kälte, die man nach jedem Biwak in den Knochen spürt und die einen dazu bringt, jede kleine Annehmlichkeit aufzusaugen, sowie an ein Gefühl des inneren Friedens. Ein unstillbarer Durst, der das Bier noch besser schmecken lässt. Unbezahlbare und rare Momente, die nur durch diesen Irrtum zustande kamen. Ein ganz normaler Tag im Gebirge, der sich in ein großes Abenteuer verwandelte. Die Zeit verging schnell. Dort oben war die Aussicht überwältigend, die Sonne war trotz der fast 3.000 Meter Höhe warm, und wir verspürten nicht das geringste Verlangen, ins Tal abzusteigen.