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IN KLEINEN SCHRITTEN ZU NEUEN GIPFELN

IN KLEINEN SCHRITTEN ZU NEUEN GIPFELN

Die Geschichte von David und Kerstin Wallmann

"Deine aktuelle Lebenssituation bestimmt nicht dein Ziel, sondern nur deinen Ausgangspunkt."

Der Einsturz eines Seracs wirft nicht nur die sportlichen, sondern auch alle persönlichen Pläne eines jungen österreichischen Paares über den Haufen. Die Geschichte einer neuen Normalität mit kleinen Siegen und neuen Gipfeln, die es zu erobern gilt.

DAVID & KERSTIN

David Wallmann ist ein Skibergsteiger und Trail Runner aus Salzburg. Er ist sympathisch und zuvorkommend, hat immer ein Lächeln auf den Lippen und eine enorme Kraft in den Beinen, mit der er mit erstaunlicher Leichtigkeit von einem Gipfel des Hohen Gölls zum nächsten gelangt. Nicht schlecht für jemanden, der bis zu seinem 18. Lebensjahr nur in einer Amateurmannschaft in der Provinz Fußball gespielt hat.

Seine Leidenschaft für den Bergsport entwickelt sich während seiner Studentenzeit. In den Bergen rund um Salzburg findet der junge David einen Weg, dem hektischen Tempo der Stadt zu entfliehen, den Kopf frei zu bekommen und sich - vielleicht zum ersten Mal - nur auf sich selbst zu konzentrieren. Für ihn öffnen sich buchstäblich die Türen zu einer neuen Welt.

Wenn David an Trail Running-Wettkämpfen teilnimmt oder lange Skitouren in Angriff nimmt, weicht sein von Natur aus zurückhaltender Charakter einer mutigeren, forscheren Version seiner selbst. Er fühlt sich dann frei von jeglichen Konventionen, es macht ihm nichts aus, auf dem Rückweg von einer Skitour in seiner Bergsport-Montur in einen Supermarkt zu gehen oder sich im Dezember als Weihnachtsmann zu verkleiden und die Feiertage als weihnachtlicher Vorbote im Gebirge anzukündigen. Die Natur ist seine Welt - und David erlebt sie auf seine eigene Weise.

David's Wettkampf-Ergebnisse bestätigen unmittelbar, dass er in dieser Umgebung in seinem Element ist: Mit dem 8. Platz bei der Marathon-Veranstaltung Mountain Attack im Jahr 2017 zählt er zu den besten Langstreckenläufern, und der 2. Platz beim Stubai Ultratrail im Jahr 2019 bringt ihm den Titel „Österreichischer Trailläufer des Jahres“ ein.
 
Sein spektakulärstes Abenteuer aber bleibt die Alpenüberquerung auf Ski im Jahr 2018 gemeinsam mit sieben Begleitern: 36 Tage, 1.721 Kilometer und 89.644 Höhenmeter. Die längste Ski-Expedition der Welt, die auf der Route der historischen Überquerung von 1971 verläuft. Eine Leistung, die den Skialpinismus in Österreich und über die Grenzen hinaus geprägt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Kerstin Tossmann’s enge Verbindung zu den Bergen ist dagegen auf ihre Familie zurückzuführen. Von frühester Kindheit an verbrachte sie sehr viel Zeit in den Bergen mit Bergsteigen und Skitourengehen.

Kerstin ist ein Mädchen mit traditionellen (und gesunden) Werten. Die ideale Begleiterin für eine Tour. Sie reicht dir ihre Wasserflasche, wenn deine fast leer ist. Sie entschuldigt sich, wenn sie dir aus Versehen auf die Füße tritt, und ihr Blick verliert sich in der Ferne, wenn sie den Gipfel erreicht. Kerstin ist aber auch diejenige, die jeden Ausflug bis ins kleinste Detail plant. Ihr „Alter Ego“ bei Unternehmungen in der Natur passt perfekt zu ihrem Alltagsleben.

Auch Kerstin erzielt herausragende Ergebnisse bei Trail Running- Wettkämpfen, darunter beispielsweise den Sieg bei ihrem allerersten Rennen, dem Traunsee Bergmarathon, bei dem sie einen neuen Streckenrekord aufstellte. Nicht schlecht für eine Sportlerin, die eigentlich keine Wettkämpfe mag, sondern diese als neue Herausforderung versteht, die sie gerne annimmt.

Ebenso beachtlich sind die Siege, die die beiden als Paar errungen haben, wie zum Beispiel beim RUN2 Mixed beim Transalpine Run in den Jahren 2019 und 2023 sowie beim Eiger Ultra Trail by UTMB im Jahr 2024.

Über den Berglauf hat Kerstin David auch kennengelernt. Das war 2018, als Kerstin als Trainerin bei einem Workshop in Salzburg arbeitet. David nimmt als Sportler an einer Trainingseinheit teil, und die beiden beginnen über die beste Strecke für die nächste Tour zu sprechen. David gelingt es, ihr das Versprechen abzuringen, diese gemeinsam zu unternehmen. Es ist der Beginn einer Beziehung, in deren Verlauf sie in den folgenden Jahren immer mehr Strecken gemeinsam laufen und immer mehr Gipfel in Italien, der Schweiz, Österreich und Deutschland erreichen, und dabei sowohl die Anstrengung als auch den Erfolg miteinander teilen. David und Kerstin sind ein Paar im Sport und im Leben, das mit großer Bergbegeisterung die Zeit miteinander in vollen Zügen genießt.

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DIE VERABREDUNG MIT DEM SCHICKSAL

27. Mai 2022. Die italienischen und schweizerischen Nachrichtensender überschlagen sich bei der Nachricht vom Einsturz einiger Seracs des Grand Combin (Plateau du Déjeuner) auf einer Höhe von etwa 3.400 Metern. Von diesem Unglück, das wahrscheinlich durch den Anstieg der Temperaturen in den vorangegangenen Tagen verursacht wurde, sind 15 Bergsteiger betroffen. Zwei von ihnen verlieren ihr Leben.

Auch David und Kerstin nehmen am frühen Morgen den Hauptgipfel über die Normalroute in Angriff. Sie sind vorsichtig und erfahren, da sie bereits Dutzende von Bergtouren über 4.000 Meter unternommen haben.

Doch an diesem Tag sind die Gesetzmäßigkeiten der Natur stärker und die beiden bekommen die Auswirkungen am eigenen Leib zu spüren. Wie durch ein Wunder gelingt es Kerstin, der Lawine zu entgehen und sie bleibt nahezu unverletzt.

Doch der Aufprall verschont David nicht, der von einem riesigen Eisblock getroffen wird und bewusstlos zu Boden fällt. Die folgenden Stunden sind zweifellos die schlimmsten in Kerstin's Leben.

Das Warten auf das Eintreffen des Rettungshubschraubers, ohne ihren bewusstlosen Partner aus der Gefahrenzone transportieren zu können, ist ein Gefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt. Die anderen Bergsteiger haben sich aus Angst in Sicherheit gebracht. Kerstin kann nichts anderes tun, als bei David zu bleiben und ihn warm zu halten, wobei sie ihre eigene Sicherheit dabei auf's Spiel setzt. Es ist unmöglich, in einer solchen Situation objektiv zu handeln. Eine Entscheidung, die David wahrscheinlich das Leben gerettet hat.

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Was folgt ist David's Abtransport durch den Schweizer Rettungsdienst ins Krankenhaus. Aufgrund des Traumas kann er seine rechte Körperhälfte nicht mehr richtig bewegen und seine linke Seite ist gelähmt. Auch sprechen kann David nicht. Von diesem Moment an heißt das neue Ziel, das es zu erreichen gilt, Normalität.

Die ersten Monate der Rehabilitation sind die schwierigsten ihres Lebens: Sie schwanken zwischen dem Überleben, dem Wissen um neue, greifbare Grenzen, die es zu überwinden gilt, und der Hoffnung auf eine Rückkehr zu den Trails, die durch jedes kleine Zeichen des Fortschritts genährt wird. 260 Tage in einem Krankenhauszimmer zu verbringen, war nicht Teil des Plans, den sie für sich selbst gemacht hatten. Jedes weitere erreichte Gipfelkreuz ohne ihren Lebenspartner zu erreichen, hinterlässt ein Gefühl der ohnmächtigen Verzweiflung. Aber Aufhören ist niemals die Lösung - schon gar nicht in diesem Fall!

Kerstin beginnt, ihre Zeit zwischen ihrer Tätigkeit als Lehrerin und den Besuchen im Krankenhaus aufzuteilen, wo sie David schon allein durch ihre Präsenz die nötige Kraft für einen Neuanfang geben kann, während sie selbst in den Bergen - dank ihrer langjährigen Freunde - eine ständige Quelle der Motivation findet. Zum Ende des Jahres beschließen die beiden, als wollten sie dem Schicksal, das sie auseinanderreißen wollte, die Stirn bieten, standesamtlich zu heiraten!

AUF ZU NEUEN GIPFELN

Heute blickt David aus dem Fenster auf das Panorama des Hohen Gölls mit seiner Burg und den flachen Felsen, die Österreich von Deutschland trennen. Anfangs hat ihn seine vorübergehende Behinderung sehr frustriert, aber mit Kerstin's Unterstützung hat er es geschafft, neue Herausforderungen zu meistern. Nicht allein durch Training, sondern auch durch den dringenden Wunsch, in den nächsten Jahren wieder in Fels und Schnee unterwegs zu sein. In nur wenigen Monaten hat David deutliche Fortschritte gemacht: Er saß nicht mehr im Rollstuhl, sondern konnte mit Hilfe einer Gehhilfe gehen und sogar sein Tempo mit ein paar Laufbandeinheiten steigern. Nachdem er die Angst vor Stürzen überwunden hatte, konnte er seine Ski wieder anschnallen, kurze Strecken im heimischen Garten zurücklegen und in der Kletterhalle ein paar Züge klettern.

Kerstin ihrerseits hat ihre Verbundenheit mit den Bergen noch weiter vertieft und verbringt ihre Freizeit mit langen Skitouren und der Teilnahme an Ultratrail-Rennen mit ihrer besten Freundin Verena. Ihre zweite Lieblingssportart Trail Running erinnert an David's Debüt, denn auch sie versprüht mit ihrer Technik mit jedem Schritt Freude und Leidenschaft. David selbst wartet an den Verpflegungsstationen auf sie. Die beiden besprechen die Rennstrategie und so bleibt David in seinem "Rennmodus" und erlebt die Wettkämpfe seiner Partnerin mit.

David und Kerstin genießen mittlerweile ihre neue Normalität, indem sie mit ihrem Wohnmobil auf Abenteuerreise gehen. So finden sie in dieser Zeit des Übergangs zu dem zurück, was sie immer zusammenhielt. In der Zwischenzeit leuchtet der Hohe Göll in der Ferne. Er scheint fast näher zu sein als sonst. Könnte das der nächste neue Gipfel sein?

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